Alexandre Guilmant (*12. 3. 1837 Boulogne-sur-Mer +29. 3. 1911 Meudon)
Überblick
(zuerst erschienen in: Hermann J. Busch (Hg.), Zur französischen Orgelmusik des 19. und 20. Jahrhunderts, Studien zur Orgelmusik Band 4, Dr. J. Butz Musikverlag, Bonn 2011, S. 159ff.)
Den ersten Unterricht erhielt Guilmant von seinem Vater; 1860 nahm er auf Vermittlung von Aristide Cavaillé-Coll ein zweijähriges Orgelstudium bei Nicolas Jacques Lemmens in Brüssel auf. Dem Pariser Publikum stellte er sich 1862 bei der Orgeleinweihung in Saint-Sulpice vor; Aufsehen erregte 1868 auch sein Spiel in Notre-Dame, als er anlässlich der Orgeleinweihung seinen Marche funèbre et chant séraphique vortrug. 1871 wurde ihm das Organistenamt an Ste-Trinité übertragen; 1894 gründete er mit Vincent d’Indy und Charles Bordes die „Schola Cantorum“, an der er auch Orgelunterricht erteilte. 1896 folgte er Charles Marie Widor als Orgellehrer am Pariser Conservatoire; zu seinen Schülern zählte u. a. Marcel Dupré. Bemerkenswert ist die große Zahl amerikanischer Studenten, die seinen Unterricht suchten; 1893, 1898 und 1904 unternahm er sehr erfolgreiche Konzerttourneen in die USA. 1901 verließ er die Trinité wegen Desavouierung durch die dortige Geistlichkeit (ohne sein Wissen hatte man während seiner Abwesenheit die Orgel renovieren lassen); Freunde verschafften ihm eine Art Satisfaktion, indem sie sich erfolgreich um seine Ernennung zum Ehrenorganisten der Kathedrale Notre-Dame bemühten.
Als Komponist empfiehlt sich Guilmant nicht durch die Kraft seiner individuellen Persönlichkeit, sondern durch das sichere Gefühl dafür, was seine Zuhörer von ihm erwarten bzw. was der jeweiligen Situation (in Gottesdienst oder Konzert) angemessen sei. Diese Ausgangsposition schloss einen starken Traditionsbezug mit ein; keineswegs sah es Guilmant als erforderlich an, dass sich seine Musik von derjenigen besonders geschätzter „klassischer“ Komponisten in jedem Fall unterscheiden müsse – im Gegenteil: Gelegentlich finden sich bei ihm Untertitel wie „alla Händel“, „im Stil Johann Sebastian Bachs“, „alla Mozart“ usw.; und auch dort, wo sie fehlen, ist mitunter das Vorbild so deutlich erkennbar, dass man von regelrechten Stilkopien sprechen kann. Auf die Modelle und Techniken der Vergangenheit hat er sich so weitgehend – und auch mit so viel Einfühlungsvermögen – eingelassen wie keiner seiner Zeitgenossen. Seine kompositorische Identität ist insoweit nicht die eines Neuerers, sondern im wesentlichen die eines gewandten Eklektizisten, der dem von ihm Geschaffenen oft nur dadurch seinen eigenen Stempel aufdrückt, dass er verschiedene Einflüsse zur so noch nicht dagewesenen Synthese zusammenführt oder dass er sein Vorbild zu übertrumpfen sucht. Einen unverwechselbaren und als solchen aussagekräftigen Eigenstil hat er hingegen nicht entwickeln wollen oder können; „typisch“ ist allenfalls eine nie versiegende melodische Erfindungskraft, die zwar manchmal die Grenzen zum Sentimentalen und Banalen streift, überwiegend aber eine vornehme Noblesse bewahrt.
Sein primäres Ziel war kein „individuell-künstlerisches“, sondern ein praktisches: den bescheidensten Amateurorganisten ebenso wie den virtuosen Konzertorganisten geeignetes Material für die Erfüllung ihrer Aufgaben an die Hand zu geben. Dies beinhaltete, dass er Stücke in allen Schwierigkeitsgraden veröffentlichte, darunter etliche ganz kurze und einfache, wie sie jeder einigermaßen fähige Musiker selbst komponieren oder gar improvisieren könnte, wie sie aber ein noch in den Anfangsgründen befindlicher Organist nun einmal als Handleitung benötigt (insoweit ist sein Opus noch heute auch von pädagogischem Interesse).
Unanfechtbar bleibt, unabhängig von der jeweiligen Aufgabenstellung, seine zu jeder Zeit gediegene und differenzierte Satztechnik; hierin übertrifft er die meisten seiner für die Orgel komponierenden Zeitgenossen. Bloße tonmalerische Effekte und weitschweifige rezitativische Gebärden scheut er; immer ergibt sein Satz in sich einen rein musikalischen Sinn. Die Solidität seiner kontrapunktischen Fakturen ist bemerkenswert, und auch homophonen Stücken mangelt es nie an Geschmeidigkeit der Stimmführung.
Ein innerer Drang, sich auszudrücken, Bedeutungsschweres mitzuteilen und dabei um die optimale Formulierung zu ringen, scheint ihn hingegen nicht beseelt zu haben. Die eigentlich aktuellen Themen, welche die Symphonie- und Sonatenproduktion des 19. Jahrhunderts beherrschen – das Aufrichten und Lösen von Konflikten, die beständige Hinterfragung vermeintlicher Sicherheiten usw. – blieben ihm innerlich fremd.
Eine solcherart vor allem auf „Tadellosigkeit“ bedachte Schreibweise ist naturgemäß wenig entwicklungsfähig – im Wesentlichen war Guilmant um 1870 bereits „fertig“; die späteren Werke vermochten den frühen und mittleren Stücken nichts Entscheidendes mehr hinzuzufügen. Hauptverantwortlich für den grundsoliden, sich selbst genügenden und damit mitunter auch selbstzufrieden-biederen Eindruck, den Guilmants Musik der ersten Schaffensjahrzehnte hinterlässt, ist seine extreme Bevorzugung periodischer Strukturen, die ein stetes Hemmnis für jegliches Expansionsstreben in puncto Ausdruck oder Form bildete: In der abgezirkelten Welt von Vier- und Achttaktern ist für modulatorische Kühnheiten wenig Platz; und ein Bedürfnis nach komplexeren, metrisch vielschichtigen Formverläufen kann gar nicht erst entstehen.
Aus Guilmants starkem Festhalten an der Periodik resultiert daher eine Bevorzugung des reihenden Formprinzips – sei es, dass er dieses kontrapunktisch verwirklicht (beispielsweise in Fugen, die Themeneinsatz auf Themeneinsatz folgen lassen), sei es, dass er einfache Liedformen aufgreift und ggf. gewissermaßen nur „multipliziert“. Dramatische Entwicklungsformen hingegen sind Guilmants Sache nicht; die Sonatenhauptsatzform mit ihrem Spannungspotential (Themendualismus usw.) hat ihn als solche kaum angesprochen; vielfach entkleidet er sie ihres eigentlichen Charakters, indem der Durchführungsteil eher ein unbeschwertes Intermezzo darstellt, als dass es zu ernsthafter thematisch-motivischer Arbeit kommt.
Für Guilmant ist die entscheidende Kategorie der kompositorischen Verarbeitung musikalischer Ideen nicht „Durchführung“, sondern „Variierung“. Die einzige Form, die man in Grenzen als seinen Eigenbesitz bezeichnen kann, ist bezeichnenderweise eine relativ häufig auftretende „ABA-Form mit dezent variiertem da capo“. Dass in einer dreiteiligen Formanlage bei der Wiederholung des ersten Satzteils nach dem Mittelteil Veränderungen kompositorischer Natur angebracht werden (welche über die barocke „Verzierungspraxis“ hinausgehen), ist nun zwar an sich nichts Neues. In der Regel geht es hierbei aber um einen wie immer gearteten „Clou“ (vgl. die unvermittelten Taktwechsel im Scherzo von Beethovens Eroica, die rhythmische Intensivierung der Begleitstimmen im Scherzo seiner Hammerklaviersonate oder hinzugefügte „Sechzehntelkontrapunkte“ in Märschen Lefébure-Wélys). Mitunter – besonders in langsamen Sätzen – gehen die zum Zwecke der Steigerung bzw. Verdichtung angebrachten Veränderungen so weit, dass man es quasi mit einer Neukomposition zu tun hat (Franz Schubert: 2. Satz der Klaviersonate B-Dur DV 960; César Franck: Pastorale E-Dur op. 19). Bei Guilmant hingegen wirken die vorgenommenen Eingriffe eher dekorativ; die variierte Version wird nicht als „Mehr“, sondern als (letztlich austauschbare) „Variante“ wahrgenommen. Dabei bleibt einerseits das da capo als ein „wörtlich gemeintes“ erkennbar; d. h. die beiden A-Teile entsprechen sich Takt für Takt; andererseits aber greifen die Veränderungen vor allem ins harmonische Detail so weitgehend ein, dass von bloßer „Ornamentierung“ nicht mehr die Rede sein kann.
Ähnliches ist auch in vielen freiformalen Sätzen mit als solchen erkenntlichen, aber eben gerade nicht notengetreuen Rekapitulationen zu beobachten. Um 1880 gelangt Guilmant von hier aus zu einer freieren Formbehandlung, deren konzentrierter Zusammenhalt allein aus der organischen Verbundenheit der musikalischen Gestalten entsteht, ohne dass es hierfür (tongetreuer oder variierter) Wiederholungen von Formteilen noch bedürfte; der Satz ist in „ständiger variativer Bewegung“. Ein solches Vexierspiel mit dem dejá-vu-Effekt („schon einmal – jedenfalls so ähnlich – gehört“) ist charakteristisch für Guilmants Komponierbedürfnis insgesamt: Sein weitgehender Verzicht auf individuelle Äußerungen bzw. der ständige Bezug auf das allgemein Anerkannte und Verständliche (der eben vor allem in der unangefochtenen Periodik und einer ungetrübten Dur-Moll-Tonalität zum Ausdruck kommt) bewirkt, dass man das Meiste von Guilmant auch beim ersten Anhören eigentlich schon zu kennen meint.
Dementsprechend erzielen seine Stücke nicht immer eine bleibende Wirkung; von Guilmants umfangreichem Orgelwerk haben sich die wenigsten Stücke im Standardrepertoire halten können. Gleichwohl nötigt die Geschicklichkeit, mit der er aus der Schublade des Altbewährten immer wieder andere Kombinationen von eigentlich sattsam bekannten Melodiefragmenten, Sequenziertechniken und satztechnischen Effekten hervorzieht, zu stets neuer Bewunderung.
1868/69 wählte Guilmant von seinen (mittlerweile schon relativ zahlreich vorhandenen) Kompositionen 24 für seine erste Veröffentlichung aus; hatte er (gemäß einer Notiz in einem der Manuskripte) zunächst noch an die schlichte Überschrift 24 pièces pour orgue gedacht, wählte er schließlich den programmatischen Titel Pièces dans différents Styles aus („Stücke in verschiedenen (!) Stilen“ – nicht „in einem Personalstil“). Die 24 Stücke wurden in 6 „livraisons“ aufgeteilt; in den Folgejahren erschienen weitere Lieferungen. In ihrer Gesamtheit stellt die Sammlung eine Art Kompendium der französischen Orgelmusik dieser Epoche dar, indem sie die verschiedensten (liturgischen und konzertanten) Formen und Gattungen aufgreift.
Daneben begann Guilmant 1873 eine zweite Reihe unter dem Titel „L’Organiste pratique“, die – der Titel drückt es bereits aus – dezidiert zum praktischen Gebrauch (in der Kirche) bestimmt war; sie präsentiert sich daher weitaus weniger „charakteristisch“ und weist somit einen geringeren Formen- und Gestaltungsreichtum auf als die Pièces dans différents styles. Die durchgehend zweisystemige Notierung (bzw. die damit verbundene manualiter-Spielbarkeit) gewährleistete eine Aufführbarkeit auch auf Harmonium oder pedalloser Orgel. Da sich L’Organiste pratique an den Durchschnittsorganisten wendet, sind die spieltechnischen Anforderungen relativ niedrig gehalten und ggf. prima vista zu bewältigen (wobei freilich im Laufe der Zeit ein Angleichung an die Pièces dans différents styles dahingehend erfolgte, dass auch dem „praktischen Organisten“ anspruchsvollere und einen gewissen Übeaufwand erfordernde Aufgaben zugemutet werden).
1887 begann Guilmant noch eine dritte Reihe unter dem bezeichnenden Titel L’Organiste Liturgiste herauszugeben („der Organist als Liturgiker“ – was anscheinend mehr zu sein beabsichtigte als nur ein „liturgischer Organist“). Gemeinsamer Nenner ist hier der Bezug auf liturgische Melodien; in der konkreten Verarbeitung reicht die Spannweite von einfachsten Begleitsätzen bis hin zu ausgedehnten und technisch anspruchsvollen Stücken. Sein im Organiste Liturgiste an den Tag gelegter Eifer für die Gregorianik – er griff diese auf, als dergleichen noch keineswegs allgemein üblich war – ist jedoch durchaus ambivalent. Modalität und freie Rhythmik des Chorals begriff er (anders als Widor) nur ansatzweise als stilistische Anregung; meistenteils verwandelte er die Choralmelodien dem eigenen dur-moll-tonalen und periodisch-melodischen Empfinden an. Symptomatisch ist bereits seine große Vorliebe für zwei frei gedichtete strophische Formen, die der prinzipiell auf Bibelwort fußenden Gregorianik im engeren Sinne heute meist gar nicht mehr zugerechnet werden: Hymnus und Sequenz. Letztere (auf französisch „Prose“ genannt) erfreute sich im Frankreich des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit (zwar waren die Sequenzen im 16. Jahrhundert bis auf einige wenige abgeschafft worden, doch sang man sie in der „(neu-)gallikanischen“ Liturgie Frankreichs noch bis zu den vatikanischen Choralreformen um 1900 an allen hohen Feiertagen). Ihre meist spätmittelalterlichen (überwiegend dreizeiligen) Strophenmelodien kommen dem modernen Dur schon sehr nahe – und gerade solche „Choral“-Motive zitierte Guilmant besonders häufig. Auch in dieser Hinsicht erweist er sich also als typischer „Historist“, der das überkommene Erbe nicht puristisch rezipiert, sondern in eklektizistischer „Modernität“ weiterführt.
Insoweit Guilmant grundsätzlich die konkrete Verwendbarkeit seiner Kompositionen im Auge hatte, ist es eigentlich erstaunlich, dass er sich schon 1872 mit dem Gedanken trug, eine Sonate für Orgel zu schreiben – zu einem Zeitpunkt, als in Frankreich Orgelsonaten noch gar kein Thema waren: Mehrsätzige Werke hatten im Kult keinen Platz, und Orgelkonzerte waren in katholischen Kirchen verboten. Bemerkenswert ist aber vor allem, wie er sich in seinem 1874 veröffentlichten Erstlingswerk auf diesem Gebiet der neuen Aufgabe differenziert und adäquat nähert: Die Themen sind weiträumiger angelegt und die Sonatenhauptsatzform ist dramatischer aufgefasst als im bisher Komponierten, um dem Anspruch der Gattung gerecht zu werden. Auffällig ist auch die orchestrale Konzeption im Einsatz der verschiedenen Klangflächen der Orgel; andererseits begegnen im Finale auch typisch pianistische Figurationen, wie sie in den virtuosen „Schaustücken“ seiner Kollegen häufig (bei Guilmant allerdings insgesamt nur erstaunlich selten) zu finden sind: ein Kompendium des auf der Orgel Möglichen.
Dass der Komponist trotz der quasi symphonischen Konzeption die Betitelung als „Symphonie“ vermeidet, erscheint nur im Rückblick erklärungsbedürftig; dergleichen war um 1875 nämlich nicht üblich (dass Widors Vorstoß von 1872, Orgel-„Symphonien“ zu veröffentlichen, auf breiter Front Nachfolge finden würde, war nicht unbedingt zu erwarten). Des weiteren knüpfte Guilmant in seiner ersten Sonate so eindeutig an das für diese Gattung typische dreisätzige Schema an, dass jede andere Benennung unverständlich gewesen wäre. (Wenn er später die Orgel/Orchester-Bearbeitungen der 1. und dann auch der 8. Sonate dann doch (1. bzw. 2.) „Symphonie“ nennt, so lässt dies den Schluss zu, dass letzterer Terminus für ihn unauflöslich mit dem Orchester verbunden war – wohingegen ihm das Adjektiv „symphonisch“ gelegentlich auch zur näheren Bestimmung eines Orgelwerkes dienen konnte.)
Gemeinhin werden heute die Orgelsonaten Guilmants – anders als im 19. Jahrhundert! – als das Herzstück seines Schaffens angesehen; aufs Ganze gesehen hat er denn auch in ihnen – mehr als in seinen anderen Kompositionen – sorgfältig auf eine „ernsthafte“ Gestaltung geachtet und jegliches auch nur annähernd Banale aus ihnen herausgehalten (was man von den drei Sonaten seines Lehrers Lemmens – die übrigens auch erst 1874 erschienen – nicht uneingeschränkt behaupten kann, vgl. den „Marche pontificale“ in dessen 1. Sonate). Des weiteren ist Guilmants Sonatencorpus gerade in seiner gestalterischen und qualitativen Heterogenität höchst aufschlussreich für ein zutreffendes Gesamtbild: 2. und 3. Sonate 1883 „entstanden“, als er zusammen mit den letzten Lieferungen des Organiste pratique eine dreisystemige Version der gesamten Sammlung veröffentlichte und dabei einige Sätze aussonderte (bzw. eben zu „Sonaten“ zusammenstellte); und somit ist auch der Stil seiner Sammlungen in seinem Sonatenwerk präsent.
Dennoch darf man nicht übersehen, dass der mehrsätzige Zyklus für Guilmant als Kompositionsaufgabe keineswegs im Zentrum stand; anders als Franck oder Widor hat er auch weder Orchestersymphonien noch Klaviersonaten komponiert. In einem Artikel über die Orgelmusik und ihre Formen für die Encyclopédie de la Musique et Dictionnaire du Conservatoire lässt sich Guilmant ausführlich über Toccata, Fuge usw. aus, streift die Sonate aber nur mit wenigen Sätzen, wobei einmal mehr der praktische Aspekt im Vordergrund steht: Sie sei geeignet, in einem Konzert das Talent des Ausführenden glänzen zu lassen. Wenn Guilmant dabei zugleich einräumt, dass die Sonatenform alle Empfindungen ausdrücken könne, derer die Musik fähig sei, so muss dies nicht unbedingt als Zeichen persönlicher Affinität verstanden werden: Alle nur möglichen Empfindungen ausdrücken zu wollen, lag gar nicht in seinem Naturell (das ja allzu Persönliches nicht preisgeben wollte). In gewisser Hinsicht blieb die erste Sonate zunächst auch ein Einzelfall; die Folgewerke können sich mit ihr (schon von ihrer Entstehungsgeschichte her) nicht messen, können aber auch rein umfänglich nicht die Waage halten zu dem, was ihn vorrangig beschäftigte: nämlich die Weiterführung seiner Sammlungen.
Die 1890er Jahre zeigen Guilmant – in relativ bescheidenem Umfang – noch einmal auf der Suche nach Erweiterung seiner kompositorischen Möglichkeiten; in den letzten Pièces dans différents styles macht er sich von seiner Vorliebe für Perioden gelegentlich frei und sucht seine Themen und Formen origineller und charakteristischer zu gestalten; auffällig ist weiterhin eine verfeinerte Harmonik. Dies gilt insbesondere auch für seine 5. Sonate, die an die herausragende Qualität der ersten anknüpft, allerdings zum Entstehungszeitpunkt (1895) bereits einigermaßen anachronistisch war (vgl. die beiden letzten, zeitgleichen Symphonien des Generationsgenossen (!) Widor, die ganz neue Wege einschlugen). Die später noch herausgebrachten Stücke sind überwiegend nur noch als eine Nachlese anzusehen, die vom Wirken der jüngeren Generation (Vierne u. a.) keine Kenntnis mehr nimmt. Eine limitierte Experimentierfreude spricht auch aus der Tatsache, dass Guilmant bei Neuauflagen seiner Werke kaum Veranlassung zur „Verbesserung“ spürte; eventuelle Retuschen bleiben immer marginal (vgl. hiermit die erheblichen Veränderungen, die Widor an seinen Symphonien immer wieder vornahm). Bezeichnend ist es auch, dass sich Guilmant seit etwa 1900 vom Komponieren mehr und mehr abwandte zugunsten einer umfangreichen editorischen Tätigkeit; u. a. gab er (zusammen mit André Pirro) die wichtigsten Orgelbücher der französischen Klassik neu heraus.
In seiner Gesamtheit vermittelt Guilmants Orgelwerk ein Bild der französischen Orgelwelt um 1860/80, das so umfassend kaum irgendwo sonst gewonnen werden kann: Die à-la-mode-Kultur der „orgue de salon“ spiegelt sich in seinem Schaffen ebenso wider wie die ehrwürdige Liturgietradition Frankreichs.
Übersicht über Guilmants Veröffentlichungen der Sonaten und der drei großen Sammlungen:
Jahreszahl | Titel | Opuszahl |
1868 | Pièces dans différents Styles, Lf. 1-5 | 15-19 |
1869 | Pièces dans différents Styles, Lf. 6 | 20 |
1872 | Pièces dans différents Styles, Lf. 7-9 | 24, 25, 33 |
1873 | L’Organiste Pratique (Harm.), Lf. 1 | 39 |
1874 | Pièces dans différents Styles, Lf. 10 | 40 |
L’Organiste Pratique (Harm.), Lf. 2 | 41 | |
1. Sonate | 42 | |
1875 | Pièces dans différents Styles, Lf. 11-12 | 44-45 |
1876 | L’Organiste Pratique (Harm.), Lf. 3-4 | 46-47 |
1877 | L’Organiste Pratique (Harm.), Lf. 5 | 49 |
1878 | L’Organiste Pratique (Harm.), Lf. 6 | 50 |
1879 | L’Organiste Pratique (Harm.), Lf. 7 | 52 |
1881 | L’Organiste Pratique (Harm.), Lf. 8 | 55 |
1882 | L’Organiste Pratique (Harm.), Lf. 9 | 56 |
1883 | L’Organiste Pratique (Harm.), Lf. 10-12, | 57-59 |
(L’Organiste Pratique (Org.), Lf. 1-12) | ||
(2. u. 3. Sonate) | ||
1884 | Noëls, Lf. 1 | 60, Nr. 1-7 |
1885 | 4. Sonate | 61 |
1886 | Noëls, Lf. 2-4 | 60, Nr. 8-20 |
1887 | L’Organiste liturgiste, Lf. 1-2 | 65, Nr. 1-11 |
1888 | 60 Interludes | 68 |
Pièces dans différents Styles, Lf. 13 | 69 | |
L’Organiste liturgiste, Lf. 3-4 | 65, Nr. 12-21 | |
1889 | Pièces dans différents Styles, Lf. 14-15 | 70-71 |
L’Organiste liturgiste, Lf. 5 | 65, Nr. 22-29 | |
1891 | Pièces dans différents Styles, Lf. 16 | 72 |
L’Organiste liturgiste, Lf. 6 | 65, Nr. 30-36 | |
1892 | Pièces dans différents Styles, Lf. 17-18 | 74-75 |
1895 | 5. Sonate | 80 |
1897 | 6. Sonate | 86 |
L’Organiste liturgiste, Lf. 7-8 | 65, Nr. 37-46 | |
1898 | L’Organiste liturgiste, Lf. 9 | 65, Nr. 48-54 |
1899 | L’Organiste liturgiste, Lf. 10 | 65, Nr. 55-58 |
1902 | 7. Sonate | 89 |
1904 | 18 Pièces nouvelles | 90 |
1907 | 8. Sonate | 91 |
1909 | Chorals et Noëls | 93 |